Lobbyismus in der EU

Die neue EU-Kommission unter der Lupe – Teil 6: Thierry Breton (Binnenmarkt)

Der zweite Versuch: Nach dem Scheitern Sylvie Goulards soll nun Thierry Breton, bisheriger Chef des französischen IT-Giganten Atos Kommissar für den Binnenmarkt werden. Neben Erfahrungen in der Privatwirtschaft hat der ein enormes Potenzial für Interessenkonflikte im Gepäck. Diese Woche muss er den Fragen der europäischen Abgeordneten Rede und Antwort stehen.
von 12. November 2019
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Thierry Breton

Die erste Kandidatin aus Frankreich war vom Europäischen Parlament abgelehnt worden, nun hat Emmanuel Macron den Chef des französischen IT-Giganten Atos, Thierry Breton, ins Rennen geschickt. Neben Erfahrungen in der Privatwirtschaft hat der ein enormes Potenzial für Interessenkonflikte im Gepäck. Diese Woche muss er den Fragen der europäischen Abgeordneten Rede und Antwort stehen.

Sollte Breton tatsächlich Teil der neuen EU-Kommission werden, wäre dies das erste Mal, dass ein Unternehmenschef einen der höchsten europäischen Posten übernimmt. Problematisch ist das aus mehreren Blickwinkeln: So wäre Breton damit für die Regulierung seines eigenen Tätigkeitsfeldes zuständig – und würde damit die Drehtür in eine zwar ungewohnte, aber nicht minder problematische Richtung nehmen. Auch scheint es sein bisheriger Arbeitgeber Atos in Sachen Transparenz und Offenlegung nicht allzu ernst nehmen.

Eigentlich sollte das die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen alarmieren, denn diese hatte in ihrem „Mission letter“ an die designierten Kommissar*innen erklärt, dass sie „auf den höchsten Grad an Transparenz und Ethos des gesamten Kollegs bestehen“ werde. Es dürfe „keinen Raum für Zweifel an unserem Verhalten oder unserer Integrität“ geben.

Atos – Tech-Gigant und Lobby-Riese

Ob Breton diesen Anspruch erfüllen kann, ist mehr als fraglich. Seit mittlerweile zehn Jahren steht er an der Spitze des Technologie-Konzerns Atos. Das Unternehmen ist in vielen Bereichen aktiv, von (Cyber-)Sicherheit und Telekommunikation, über Consulting bis hin zu Finanzdienstleistungen und Gesundheitsvorsorge. All diese Felder sind von großer Bedeutung für die Europäische Union – und entsprechend großzügig fallen auch die Gelder aus, die Atos aus EU-Töpfen bezieht. Allein in 2018 erhielt das Unternehmen 107 Mio. € von der EU-Kommission und ihren Behörden (Quelle: Financial Transparency System).

Entsprechend umtriebig sind Atos Lobbyaktivitäten in Brüssel: Seit 2014 registrierten hochrangige Kommissionsbeamte 24 Treffen mit Atos, der Konzern finanziert 2,5 Vollzeit-Lobbyposten und lässt die eigenen Interessen durch mindestens drei Brüsseler Lobbyfirmen vertreten. Der Witz dabei: All diese Posten sollen sich auf nur 49.999 € jährlich summieren, ein Betrag, der nicht einmal die genannten Vollzeitstellen in Brüssel deckt. Zudem erwähnt Atos‘ Eintrag im Lobbyregister mit keinem Wort die hohen Beträge, die es aus öffentlichen und letztlich steuerfinanzierten Geldern der EU erhält.

Lobby-Profi Breton

Und nun? Soll Atos-Chef Thierry Breton als EU-Kommissar für ein aufgeblähtes Riesen-Ressort verantwortlich sein: Zusätzlich zum Binnenmarkt würde er sich um den Ausbau von Verteidigung und Weltraum kümmern, und wäre auch für die Aufholjagd der europäischen Digitalindustrie zuständig. Alles Bereiche, die auch die Geschäftsfelder von Atos berühren oder sich maßgeblich mit ihnen überschneiden. Gerade im Bereich Digitales umfasst Bretons neues Aufgabenfeld ziemlich treffsicher aktuelle oder geplante Geschäftsfelder des Technologiekonzerns.

Es mag zwar sein, dass der ehemalige CEO damit in puncto Expertise gut aufgestellt ist. Aber ein Schulterschluss dieser Größenordnung geht definitiv zu weit. In seiner Funktion als Atos-CEO traf sich Breton mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker höchstpersönlich, eine Ehre, die nur wenigen Konzernvertreter*innen zuteil wurde (Quelle: Integritywatch). Auch mit Vizepräsident Andrus Ansip und der Kommissarin für „Digitale Wirtschaft und Gesellschaft“ Marija Gabriel hatte er in dieser Zeit Treffen. Mit Gabriel könnte er das in Zukunft ganz regulär: Diese bleibt Kommissionsmitglied, soll nun den Bereich „Innovation und Jugend“ übernehmen.

Doch nicht nur auf europäischer Ebene vertrat Breton die Interessen seines Konzerns. Laut französischen Medienberichten warb er bei seiner künftigen Vorgesetzten und damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen um die Schaffung eines europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsfonds.

Bereits 2014 haben wir ähnliche Wechsel von Jonathan Hill und Miguel Arias Cañete aus der Wirtschaft in die EU-Kommission scharf kritisiert. Ersterer war vorher in der Finanzindustrie tätig und wurde – wen wundert‘s – Finanzmarktkommissar. Cañete wiederum war als Ölunternehmer tätig und wurde im Anschluss Klimakommissar. Beide hatten während ihrer Zeit als Kommissar extrem viele Lobbytreffen mit den entsprechenden Industrien.

Die umgekehrte Drehtür

Für Breton wäre es nicht der erste Gang durch die Drehtür. Bereits 2005 verließ er France Télécom, um das Amt als französischer Finanzminister unter Jacques Chirac anzutreten. Nach zwei Jahren wechselte er direkt zur Rothschild Bank und nur ein Jahr später als CEO zu Atos, saß in den Vorständen und Aufsichtsräten von Großkonzernen wie AXA, Bouyges und Carrefour. Alle diese Unternehmen dürften sich angesichts seines Wechsels die Hände reiben. Sie verfügen nun über einen weiteren exzellenten Kontakt ins Herz der europäischen Politik.

Um möglichen Vorwürfen zu Interessenkonflikten vorzubeugen, ist er als CEO von Atos zurückgetreten und hat seine Unternehmensanteile in Höhe von 40 Millionen Euro abgetreten. Doch das ist nur ein erster notwendiger Schritt von vielen, denn das Risiko eines privilegierten Zugangs zur Kommission für ausgewählte Akteure – allen voran Atos – ist damit nicht gebannt. Bedenkt man zudem die großen Überschneidungen zwischen seiner vorherigen und geplanten Tätigkeit, dürfte es sehr schwer fallen, Interessenkonflikte zu vermeiden. Sicherheit, Wettbewerb, Verteidigung, Digitalisierung – nimmt man al diese Bereiche heraus, kann Breton schlicht und weg seinen Job nicht erfüllen.

Abfuhr oder Abkühlphase?

Und nun soll gewährleistet sein, dass Breton genügend Distanz zu „seiner“ Branche wahren kann? Das werden die Abgeordneten sehr sorgfältig prüfen müssen. Grundsätzlich gibt es hier verschiedene Möglichkeiten: Natürlich könnte das Parlament Breton schlicht ablehnen, genau wie im Falle der ursprünglichen Kandidat*innen aus Frankreich, Rumänien und Ungarn. Tut es das nicht, muss es auf andere Weise sicherstellen, dass Breton nicht im Sinne partikularer Interessen agiert. Etwa durch die Übernahme eines anderen Ressorts während einer „Abkühlphase“ von zwei Jahren. Oder durch klare Verpflichtungen Bretons, keine ehemaligen Kolleg*innen, Lobbyist*innen oder Vertreter*innen von Atos und seinen Ablegerfirmen zu treffen.

Unser Appell: Europäische Politik für Bürger*innen, nicht für Konzerne!

Diese Woche befindet zunächst der Rechtsausschuss über Breton, bevor es für ihn in die fachliche Anhörung geht. Die Abgeordneten müssen sich (und Breton) dabei vor allem eine Frage stellen: Wessen Interessen wird der ehemalige Konzernchef in der neuen Funktion als EU-Kommissar vertreten? Wird es ihm möglich sein, „in voller Unabhängigkeit“ die „allgemeinen Interessen der Union“ und ihrer Bürger*innen durchzusetzen, so, wie es der Vertrag über die Europäische Union vorsieht? Oder besteht vielmehr Grund zur Annahme, dass Breton die partikularen Interessen ihm nahestehender Industrien und Unternehmen besonders berücksichtigt?

Für uns ist klar: Wenn nicht alle Zweifel an Bretons Integrität und Loyalität ausgeräumt sind, müssen die Abgeordneten des Parlaments auch diesen Kandidaten Von der Leyens ablehnen.

Einen ausführliche Beschreibung aller Interessenkonflikte im Fall Breton findet sich im Artikel von Corporate Europe Observatory: „Thierry Breton, the corporate commissioner?“ (Englisch). Teile der Recherche sind auch in unseren Artikel eingeflossen.

Weitere Infos:

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