Lobbyismus in der EU

470 Organisationen fordern den Erhalt unserer EU-Schutzregeln von Ursula von der Leyen

Noch in der letzte Wahlperiode wurden in Brüssel viele wichtige Gesetze zum Schutz von Mensch und Umwelt vorangetrieben. Jetzt beugt sich die EU-Kommissionspräsidentin der Industrielobby und will viele von ihnen wieder abschwächen oder zurückziehen.

von 9. September 2025

Brüssel ist gerade dabei, in atemberaubendem Tempo Regeln zum Schutz von Umwelt, Gesundheit und Menschenrechten abzubauen oder zu verwässern (wir berichteten). Doch der Widerstand gegen dieses Vorhaben wächst. In einem gemeinsamen Statement mit 470 Organisationen und Gewerkschaften rufen wir EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf, unsere Rechte zu schützen. Anlass ist ihre Rede zur Lage der EU am 10. September.

Initiative Lieferkettengesetz - All rights reserved
Protestaktion gegen die Rückabwicklung des Green Deal im Mai 2025 bei der Verleihung des Karlspreises an Ursula von der Leyen
×
Protestaktion gegen die Rückabwicklung des Green Deal im Mai 2025 bei der Verleihung des Karlspreises an Ursula von der Leyen

Bei dieser Rede steckt die Kommissionspräsidentin immer die Prioritäten und Herausforderungen der EU im kommenden Jahr fest und kündigt neue Initiativen an.

Mit Sicherheit wird sie dabei auch auf die neun Gesetzespakete (die so genannten Omnibus-Pakete) eingehen, mit denen sie zahlreiche Gesetze zugunsten wirtschaftlicher Interessen abschwächen will. Denn das ist eines ihrer zentralen Projekte dieser Wahlperiode.

Drastische Einschnitte geplant

Ziel ist es, Unternehmen im großen Stil von Auflagen zu befreien, die vielen lästig sind. Unter anderem sollen die Regeln zum Datenschutz, zur KI-Regulierung und zur Zulassung von Chemikalien verwässert werden. Des Weiteren werden nach der Finanzkrise beschlossene Finanzreformen zurückgedreht und machen so möglicherweise den Weg frei für eine neue Finanzkrise.

×

Auch Einschnitte in Arbeitsrechte sind geplant. Der Schutz der Verbraucher*innen wird für den schnellen Gewinn von Unternehmen preisgegeben. Die EU-Kommission tut bei dieser Agenda alles, um die Zivilgesellschaft außen vorzuhalten und der Wirtschaftslobby privilegierten Einfluss zu verschaffen.

Widerstand der Zivilgesellschaft

Wir haben uns deshalb in einem breiten Bündnis mit Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften zusammengeschlossen, um dem Abbau von Schutzregeln entgegenzutreten. Was da gerade passiert, ist in den jeweiligen Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten noch gar nicht angekommen. Das wollen wir ändern. Wir senden ein klares Signal an die EU und die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten, dass wir uns die Abschwächung unserer Schutzregeln nicht gefallen lassen. Das Statement ist erst der Anfang unseres Protests.

Hier das zivilgesellschaftliche Statement, in dem wir unsere Kritik mit vielen anderen deutlich machen:

EU weicht Vorschriften zum Schutz von Mensch und Umwelt auf

470 zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften und Interessenverbände mahnen die EU-Kommission, deren Präsidentin von der Leyen und die EU-Mitgliedstaaten: Unsere Rechte, unsere Gesundheit, unser Planet und unser Rechtssystem sind nicht käuflich.

Unter Präsidentin Ursula von der Leyen plant die Europäische Kommission drastische Einschnitte bei bestehenden Regeln zum Schutz von Arbeits- und Sozialrechten, Menschenrechten, digitalen Rechten und der Umwelt. Es ist zu befürchten, dass Kommission und Mitgliedstaaten in den nächsten vier Jahren die Abschaffung bestehender Vorschriften für in der EU tätige Unternehmen vorantreiben werden. Damit riskiert die EU einen neuen Wettlauf nach unten.

Denn eigentlich sollen uns diese Vorschriften ein faires, gerechtes und gesundes Leben ermöglichen. Doch bereits jetzt werden sie nur unzureichend durchgesetzt. Trotz deutlicher Warnungen sollen sie nun in einem nie dagewesenen Umfang abgeschafft, abgeschwächt oder bedeutungslos gemacht werden.

Neun Monate nach Amtsantritt ist offensichtlich, dass die Kommission mit weitreichender Vereinfachung eigentlich „Deregulierung“ meint. Vorschriften, die uns vor der übermäßigen Gier der Konzerne schützen sollen, die für saubere Luft und gesundes Essen für uns und unsere Familien sorgen sollen, fallen einem Kahlschlag zum Opfer. Regelungen, die uns faire und sichere Arbeitsbedingungen garantieren, die die Umwelt schützen, Diskriminierung bekämpfen, gegen Korruption vorgehen, uns Zugang zu fairen und sicheren Finanzprodukten bieten und dafür sorgen sollen, dass Konzerne im digitalen Raum nicht unsere Privatsphäre verletzen – kurz: Gesetze, die uns alle jetzt und in Zukunft schützen – sollen drastisch beschnitten werden.

Die Kommission beharrt darauf, dass sie auf diese Weise „unnötige Bürokratie“ abbauen will. Sie behauptet, dass Europa „wettbewerbsfähiger“ wird, wenn man nur darauf vertraut, dass die Unternehmen von sich aus das Richtige tun, und dass weniger Vorschriften für mehr „Innovation“ in EU-Unternehmen sorgen. In Wahrheit zeigen die bitteren Erfahrungen aus der Geschichte der EU – Stichwort Finanzkrise oder Dieselgate – was uns tatsächlich erwartet.

EU-Bestimmungen sollen beschnitten werden, damit Investoren einfacher Mensch und Planet ausbeuten können. Was uns schützen soll, wird gewinnbringend verkauft. So wird unser Vertrauen in die Demokratie untergraben.

Mit den neuen Maßnahmen werden Unternehmen an den Verhandlungstisch der EU-Gesetzgeber eingeladen1, während gemeinwohlorientierte Organisationen außen vor gelassen werden. Durch ungeeignete Konsultationsmethoden werden Unternehmen noch stärker bevorzugt. Gleichzeitig drängen die Entscheidungsträger zivilgesellschaftliche Organisationen, die die diversen Interessen der Gesellschaft vertreten, an den Rand. Hinzu kommt, dass aufgrund der Sparpolitik die mit der Durchsetzung der Gesetze beauftragten Behörden weniger Budget und Personal haben und so das Problem noch weiter verschärft wird.

Inzwischen vergeht fast kein Tag, ohne dass die Kommission und der Rat der EU-Mitgliedstaaten versuchen, die für uns geschaffenen Schutzmaßnahmen zu beschneiden. So wurden bereits mehrere Vorschläge durchgepeitscht, ohne dass die Kommission ihrer Pflicht zur Vorlage einer Folgenabschätzung nachgekommen ist. Dabei sind diese unerlässlich. Auch die Anwendung des „Eilverfahrens“ verschärft die Situation, da hier keine Zeit für eine demokratische Debatte im Europäischen Parlament bleibt.

Die Prinzipien der Rechtsetzung sind für die Demokratie unerlässlich. Durch die Verwendung abgekürzter Verfahren bringt die Kommission kritische Stimmen zum Schweigen und legt Gesetze, die bereits demokratische Prozesse durchlaufen haben und damit einen Kompromiss zwischen den politischen Kräften in der EU darstellen, zur erneuten Diskussion vor.

Durch ein fatales Zusammenspiel verschiedener Faktoren birgt eine solche Deregulierung das Risiko, dass rechtsextreme und antidemokratische Kräfte gestärkt, Korruption ermöglicht und Ungleichheiten verschärft werden. Die dringend notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt werden ausgebremst und der Gesellschaft, insbesondere den Arbeitnehmer*innen, unentbehrliche Schutzmaßnahmen und Dienstleistungen vorenthalten. Bereits jetzt geht die „weitreichende Vereinfachung“ viel zu weit:

  • Unternehmerische Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit sind in weite Ferne gerückt: Durch den Vorschlag einer Aufweichung der Europäischen Lieferkettenrichtlinie wollen Kommission und Rat Klima- und Umweltschutzmaßnahmen sowie Menschenrechts-_ verpflichtungen in Lieferketten drastisch abschwächen. Ebenfalls massiv beeinträchtigt wird die Transparenz hinsichtlich Nachhaltigkeitsniveau und -bemühungen von Unternehmen, da nun viel weniger Unternehmen von der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen und der EU-Taxonomie betroffen sein sollen.
  • Der Schutz unserer Lebensräume und der Biodiversität ist gefährdet – gleichzeitig bedrohen Chemikalien die Gesundheit der Bevölkerung: Die Kommission hat einen Vorschlag zur Streichung von Umweltschutzverpflichtungen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik unterbreitet, der auch Maßnahmen zum Schutz von Feuchtgebieten und Torfmooren betreffen würde. Auch das EU-Chemikalienrecht für Kosmetika und die Kennzeichnungsvorschriften für gefährliche Chemikalien sollen zusammengestrichen werden. Darüber hinaus gibt es bereits beunruhigende Anzeichen dafür, dass der Vorschlag für ein umfassendes Verbot von „Ewigkeitschemikalien“ (PFAS) abgeschwächt werden soll.
  • Der Druck auf Umweltsünder wird reduziert: Verbindliche Umwandlungspläne sollten dafür sorgen, dass luftverschmutzende Industriestandorte sauberer, zirkulärer und klimafreundlicher werden. Durch Verzögerungen wird nun beim Umbau der Industrie die Transparenz und Rechenschaftspflicht der Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit ausgehöhlt.
  • Schwächere Klimaziele dienen den Unternehmen, nicht dem Planeten: Mit Rückendeckung von den EU-Mitgliedstaaten hat die Europäische Kommission als Ziel vorgeschlagen, bis 2040 die Emissionen um 90 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu reduzieren. Teil dieses Plans ist jedoch auch die Schwächung der durch Klimaschutzgesetze geschaffenen politischen Architektur durch Einführung verschiedener Flexibilitäten. Die Einführung internationaler Emissionsgutschriften im Rahmen der EU-Klimaziele würde die ambitionierten Zielsetzungen der EU im Vergleich zu einem rein auf die EU konzentrierten Ziel drastisch dämpfen. Dabei hängt man bereits hinterher, wenn es darum geht, einen angemessenen Anteil der weltweiten Bemühungen zu tragen.
  • Beschäftigte stehen vor einem Wettlauf nach unten: Mit dem vorgesehenen Vorschlag für ein „28. Regime“ drohen Einschnitte bei sozialen Rechten und sozialer Sicherheit, da Unternehmen in der EU-Gesetzgebung mehr Nachsicht gewährt würde. Damit öffnet man der Umgehung von nationalen Arbeits- und Gewerkschaftsrechten Tür und Tor.
  • Der Weg zu einer fairen und gerechten Gesellschaft verschwindet vor unseren Augen: Der Versuch, die Richtlinie über horizontale Nichtdiskriminierung zurückzuziehen, belegt ganz eindeutig, dass Menschen und ihre Rechte für die Europäische Kommission keine Priorität haben (auch wenn es inzwischen Berichte gibt, dass die EU-Kommission diesen Rückzug aufgrund von politischem und gesellschaftlichem Druck überdenkt). Neue Regelungen werden nur dann erlassen, wenn marginalisierte Bevölkerungsgruppen bestraft und überwacht werden sollen, weil höhere Ausgaben und mehr Gesetze auf Kriminalisierung, Überwachung und Militarisierung abzielen.
  • Finanzreformen werden zurückgedreht und machen so den Weg frei für eine weitere Krise: Nach der weltweiten Finanzkrise 2007–2009 hatte man sich auf internationaler Ebene auf die Einführung von Finanzaufsichtsregelungen geeinigt, die jetzt durch Verzögerungen und zahlreiche Sonderregelungen aufgeweicht werden. Dabei sollten diese Vorschriften dafür sorgen, dass Banken ihre Risiken so managen, dass sie Verluste ausreichend abpuffern können. Auch die Maßnahmen zur Förderung nachhaltiger Finanzpraktiken stehen derzeit auf dem Prüfstand und könnten abgeschafft werden.

Mit diesen Maßnahmen, die nur eine kleine Auswahl der vielen Vorschläge, Initiativen und Strategien zur Deregulierung darstellen, will die Kommission Europa vorgeblich unternehmensfreundlicher und international wettbewerbsfähiger machen. Stattdessen schaffen diese jedoch eine toxische, ungerechtere Welt für Beschäftigte, Familien und gefährdete Bevölkerungsgruppen sowie Wettbewerbsnachteile für verantwortungsbewusste Unternehmen. Auf lange Sicht werden wir für die Falschaussage, dass heute der Schutz von Mensch und Umwelt zu teuer ist, morgen mit unserer Gesundheit, Sicherheit und Gleichheit, mit unseren Rechten und Freiheiten bezahlen.

Wir fordern die europäischen und internationalen Gesetzgeber dazu auf, die in der EU-Grundrechtecharta und der UN-Menschenrechtscharta festgeschriebenen Rechte zu schützen und zu fördern, statt weiter auf Deregulierung zu setzen:

  1. Verabschieden Sie Gesetze, die mehr Schutz für soziale Sicherheit, Beschäftigte, Konsumenten, Anti-Diskriminierung, Gerechtigkeit, Klima- und Umweltgerechtigkeit, Privatsphäre und Datenschutz sowie vor giftigen Chemikalien bieten.

  2. Verlangen Sie mehr Transparenz und Rechenschaft von Unternehmen, und helfen Sie geschädigten Personen, zu ihrem Recht zu kommen.

  3. Übernehmen Sie Verantwortung für die negativen Auswirkungen von europäischen Aktivitäten auf andere Regionen oder Gesellschaften, z. B. durch Bergbau, laxe Klimaziele und giftige Chemikalien.
  1. Sorgen Sie für die Umsetzung und Durchsetzung von Gesetzen zum Schutz von Rechten, Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl. Stellen Sie den mit der Durchsetzung beauftragten Behörden mehr Mittel zur Verfügung, und begleiten Sie die Umsetzung digitaler Rechte mit Leitlinien und Unterstützung.

  2. Verstärken Sie den Schutz von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Menschenrechtlern, Journalist*innen und Aktivisten.

  3. Gewährleisten Sie, dass Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, betroffene Bevölkerungsgruppen und andere Vertreter des öffentlichen Interesses sinnvoll in Ihre Konsultationen einbezogen und ihre Interessen bei der nationalen und europäischen Gesetzgebung berücksichtigt und respektiert werden.

In einer Zeit extremer Ungerechtigkeit durch ungleiche Wohlstandsverteilung, soziale und finanzielle Ausgrenzung, Umweltzerstörung, Demokratieabbau, Überwachungskapitalismus, Ausbeutung von Arbeitnehmer*innen, tief sitzende strukturelle Schäden und Diskriminierung sowie weitreichende Menschenrechtsverletzungen fordern wir mehr Schutz, nicht weniger!

1 Maßnahmen wie „Umsetzungsdialoge“, „gezielte Konsultationen“ und „Realitätsprüfungen“

LobbyControl/Markus Jäger - CC-BY-NC-ND 4.0

Bitte unterstützen Sie uns!

Mit Ihrer Fördermitgliedschaft können Sie unsere lobbykritische Arbeit für Transparenz und Demokratie unterstützen.

Jetzt informieren & Fördermitglied werden!
Teilen

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar.

Pflichtfelder sind mit * markiert. Neue Kommentare erscheinen erst nach Freigabe auf der Webseite.

Durch Absenden des Kommentars akzeptieren Sie die Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten gemäß unserer Datenschutzerklärung.

Interesse an mehr Lobbynews?

Newsletter abonnieren!