Kurzmeldung

Sabine Christiansen – Schaubühne der Einflussreichen und Meinungsmacher

LobbyControl hat heute eine Studie „Schaubühne für die Einflussreichen und Meinungsmacher – Der neoliberal geprägte Reformdiskurs bei ‚Sabine Christiansen’“ “ zur Einladepolitik der Talkshow „Sabine Christiansen“ vorgestellt. Sie liefert eine umfangreiche Analyse der Zusammensetzung der Gäste und Themen der Sendungen von Januar 2005 bis Juni 2006. Die Kurzfassung der Studie (pdf) ist frei verfügbar. Die […]
von 7. September 2006

LobbyControl hat heute eine Studie „Schaubühne für die Einflussreichen und Meinungsmacher – Der neoliberal geprägte Reformdiskurs bei ‚Sabine Christiansen’“ “ zur Einladepolitik der Talkshow „Sabine Christiansen“ vorgestellt. Sie liefert eine umfangreiche Analyse der Zusammensetzung der Gäste und Themen der Sendungen von Januar 2005 bis Juni 2006.

Die Kurzfassung der Studie (pdf) ist frei verfügbar.

Die komplette Studie können Sie für 5 Euro plus Versandkosten bestellen.

„In der Talkshow kommen verschiedene Stimmen zu Wort und es wird munter gestritten – aber wenn man alle Gäste über diesen Zeitraum auswertet, bleibt ein klares Ungleichgewicht: ein Übergewicht der Unternehmer und Wirtschaftsverbände gegenüber den Gewerkschaften sowie der Marktliberalen und Sozialstaatskritiker gegenüber Befürwortern des Sozialstaats“, kritisiert Ulrich Müller. Unternehmer und Wirtschaftsverbände kommen zusammen auf 50 Auftritte, Gewerkschaften nur auf 16. Weite Teile der Gesellschaft – etwa Bürgerinitiativen oder Verbraucherorganisationen – tauchten gar nicht auf der offiziellen Gästeliste auf.

„Christiansen spielt die Stichwortgeberin für einen neoliberal geprägten Reformdiskurs“, ergänzt Heidi Klein. Insbesondere bei Sendungen zu wirtschaftlichen oder sozialstaatlichen Reformen kämen marktliberale Wissenschaftler deutlich häufiger zu Wort als ihre Kollegen mit alternativen Standpunkten. „Von den zehn Wissenschaftlern, die um ihre Expertenmeinung gefragt werden, stehen sieben in direktem Zusammenhang mit marktliberalen Organisationen oder Denkfabriken“, erläutert Klein.

Neben der Unausgewogenheit des Gäste- und Themenspektrums bemängelt LobbyControl die fehlende Transparenz über die Hintergründe der Gäste. Verbindungen einzelner Gäste zu Denkfabriken und Kampagnen wie der Stiftung Marktwirtschaft, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder Unternehmen z.B. aus der Versicherungsbranche würden nicht genannt. „Damit werden den Zuschauern wichtige Informationen vorenthalten, mit denen sie sich ein eigenes Bild von den vertretenen Positionen machen könnten“, kritisiert Ulrich Müller. Nur der einzige Ökonom mit wirklich abweichender Meinung, Rudolf Hickel, wird von vornherein als „linker Ökonom“ ideologisch verortet.

Die Studie zeigt den Bedarf für eine konzeptionelle Neuausrichtung der Sendung. „In der jetzigen Form genügt die Sendung nicht dem öffentlich-rechtlichen Bildungs- und Informationsauftrag“, so Müller. „ARD und NDR müssen jetzt die Weichen für eine konzeptionelle Neuausrichtung der Sendung nach Christiansens angekündigtem Abgang Mitte 2007 stellen.“ LobbyControl fordert, die Verzerrung des Themenspektrums und der eingeladenen Gäste sowie die Intransparenz der Interessenverflechtungen der Gäste zu beenden.

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10 Kommentare

Andre12. November 2006 um 14:48

In Herr Michael Brinkmeier , CDU-Landtagsabgeordneter NRW aus Gütersloh/Hochburg Bertelsmann/ , will in der Medienlandschaft neue Maßstäbe setzen. Er möchte mit finanziellen Gründen den unabhängigen Bürgerfunk in NRW in einer Form beschneiden, die ihn praktisch ausschaltet.
http://www.lbf-nrw.de/index.php
Meinungsfreiheit ist in einer neoliberalen Welt eben nicht mehr gefragt, wenn diese nicht Christiansen-konform ist. Die SC-Show ist nur die Spitze des Eisberges.
Schon die „Lindenstrasse“ hat 150.00 Euro eingestrichen um neoliberale Inhalte in die Serie einzubauen.
Der Krake Bertelsmann steckt überall aber nur im Detail.
Zum besseren Verständnis möchte ich noch erwähnen, das die „Initiative für neue Soziale Marktwirtschaft“ ein Ableger der Bertelsmannstiftung ist. Demokratie ist eben nur ein Wort, wenn man/frau sie nicht lebt.
http://abseits.heim.at/ -> Informationen und Medien

U. Müller13. November 2006 um 11:09

Lieber Andre,

zu Brinkmeier und „Lindenstrasse“ würden mich weitere Informationen und vor allem Belege interessieren. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) ist auf jeden Fall eine Kampagne der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie und nicht der Bertelsmann-Stiftung. Die hat zwar viel Einfluss – aber überall steckt sie auch nicht drin…

Christian16. April 2007 um 13:06

Diese Studie ist doch ein Witz.
Erstens verwendet sie das Wort „neoliberal“ falsch, nämlich so wie es Linkspolitiker (u.a. bei Frau Christiansen) geprägt haben. Neoliberal sind Positionen, die für eine soziale Marktwirtschaft stehen (inkl. Staatseingriffe) – bekanntester neoliberaler Politiker dürfte in der BRD Ludwig Ehrhard sein. Es ist nicht die Befürwortung eines (nahezu) schrankenlosen Kapitalismus. Siehe Wikipedia.

Zweitens wird der Politikeranteil als ausgewogen abgehakt und dann ausschließlich über die übrige Besetzung hergezogen. Natürlich gibt es aber teilweise erhebliche Überschneidungen zwischen den Standpunkten von Parteien und denen von Interessengruppen. Z.B. sind die meisten SPD-Politiker Mitglieder von Gewerkschaften und vertreten die gleiche Meinung.

Drittens wird kritisiert, dass 9 von 10 eingeladenen Ökonomen „neoliberal“ (eigentlich gemeint: nahezu alle Staatseingriffe ablehnend) sind. Fakt ist, dass dies ungefähr dem Anteil entspricht, den diese Fraktion an Wirtschaftswissenschaftlern ausmacht. Diejenigen, die sich wissenschaftlich-neutral mit Volkswirtschaften auseinandersetzen und dann Maßnahmen empfehlen, die linker Politik entsprechen, sind eindeutig Exoten. Diese Außergewöhnlichkeit dem Zuschauer mitzuteilen, dient der Information und nicht der Missbilligung (ähnlich „Vater von 10 Kindern“ – heutzutage auch ein Kuriosum und deshalb erwähnenswert).

Viertens sind die Gruppeneinteilungen zu allgemein für wirkliche Schlussfolgerungen – jedes Thema erfordert eine eigene Einteilung. Z.B. wurde in Sabine Christiansen schon oft über Terrorismusbekämpfung gesprochen, aber selten wurden Neokonservative eingeladen, obwohl diese Wesentliches hierzu zu sagen hätten. Dies führt i.d.R. dazu, dass ausschließlich über die US-Politik hergezogen wird, ohne dass es einen Verteidiger gibt.

Fünftens und am schwerwiegendsten: Die geladenen Gäste sagen nichts darüber aus, welcher Färbung die Sendung ist. Wichtig ist nämlich zum einen die Gesprächszeit, die der Gast in Anspruch nimmt (z.B.: Otto Schily führt minutenlange Monologe und unterbricht ständig andere, während Ronald Schill nur antwortet, wenn er gefragt wird und dann nur mit das Notwendigste sagt) und zum anderen, wie sich die Moderatorin verhält. Z.B.: Stellt sie an alle Diskussionsteilnehmer kritische Fragen und hakt bei jedem nach? Soetwas sollte untersucht werden (ist nicht unmöglich, wie http://www.mediatenor.de beweist).

Alles in allem sehe ich nicht, dass die in der Studie erwähnten Fakten zu den genannten Schlussfolgerungen führen. Vereinzelt gestreute Reißerthemen „neoliberaler“ Coleur helfen da auch nicht weiter, genauso gab es schon Themen über unsoziale Manager und Finanzinvestor-Heuschrecken. Es scheint so, als wollten die Autoren bewusst ein Ergebnis herbeiführen.

U. Müller17. April 2007 um 15:50

Lieber Christian

nein, diese Studie ist kein Witz. Als Ko-Autor verwahre ich mich auch gegen Verwurf, wir hätten uns ein passendes Ergebnis zusammen geschrieben. Wir haben die Einladepolitik von Sabine Christiansen seriös ausgewertet und daraus unsere Schlussfolgerungen gezogen. Zu Deinen Vorwürfen im Einzelnen:

1) Wir verwenden den Begriff „neoliberal“, so wie er ideengeschichtlich angemessen ist und im Kern von den Neoliberalen ab den 1940ern selbst geprägt wurde. Neoliberal steht demnach für eine Gesellschaftsordnung, die sich primär auf die Prinzipien des freien Marktes, Wettbewerbsorientierung und Privateigentum stützt. Staatliche Interventionen sind nicht ausgeschlossen, aber sie sollen primär der Sicherung des Marktes dienen. Man kann das gut an der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft sehen, die sich inzwischen selbst offen als neoliberal bezeichnet und versucht, das positiv zu besetzen. Sie verweist darauf, dass nach neoliberaler Konzeption ein „Eingreifen des Staates allerdings nur dann [gewollt ist], wenn beispielsweise Marktverzerrungen durch Monopole oder Kartelle einen fairen Wettbewerb zum Nutzen aller verhindern.“ Nicht gewollt sind im Umkehrschluss Eingriffe, die der Umverteilung, der sozialen Absicherung oder Umweltschutz etc. dienen. Der Neoliberalismus und Kampagnen wie die INSM zielen also im Kern auf einen Abbau des Sozialstaates – selbst wenn sie den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ im Munde führen. Dieser wurde von Erhard und anderen ursprünglich auch anders verstanden, nämlich dass die Marktwirtschaft an sich sozial ist. Die Entwicklung des deutschen Sozialstaats nach Erhard wird von Neoliberalen weitgehend als Fehlentwicklung gesehen, die man jetzt wieder zurückdrehen will.
Im Gegensatz dazu übersieht Deine Bemerkung, dass neoliberal für eine „soziale Marktwirtschaft (inkl. Staatseingriffe)“ zwei Dinge: erstens die verschiedenen Arten und Ziele von Staatseingriffen und zweitens die unterschiedlichen Begriffsverständnisse von „sozialer Marktwirtschaft“. Durch diese Auslassungen ist sie im Endeffekt eine Sinnverdrehung.

2) Natürlich vertreten Parteien unterschiedliche Positionen (wobei die simple These, dass SPD und Gewerkschaften die gleichen Positionen vertreten, in den letzten Jahren mehrfach widerlegt wurde). Aber wenn man die Ausgewogenheit der geladenen Gäste analysiert, kann man die gleichen Leute nicht zweimal in die Waagschale werfen. Die SPD-Politiker können nicht den Ausgleich zur Union, FDP und den anderen Parteien darstellen und zugleich zu den Unternehmern und Wirtschaftsverbänden. Denn die Union und die FDP vertreten umgekehrt oft eher wirtschaftsnahe Positionen. Wir sind von der Beobachtung ausgegangen, dass bei den Politikerinnen und Politikern auf Ausgewogenheit geachtet wird, während das bei den weiteren Gästen offensichtlich nicht der Fall ist. Es gibt oft Sendungen, die parteipolitisch zunächst ausgewogen erscheinen und dann durch einen oder zwei einseitige Experten eine Schlagseite bekommen. Diese Beobachtung lässt sich empirisch stützen.

3) Der dritte Kritikpunkt ist eine unterschiedliche Bewertung, den Fakt bestreitest Du ja nicht. Aus unserer Sicht sind neoliberale Politikentwürfe in der Gesellschaft und der Ökonomie sehr viel weiter umstritten und eine öffentlich-rechtliche Sendung sollte diese Debatte ausgewogen widerspiegeln.

4) Die Studie hat einen Schwerpunkt auf die Sendungen über wirtschaftliche und soziale Reformen in Deutschland gelegt (auch das Hauptthema bei Christiansen im Untersuchungszeitraum). Dafür sind die Kategorien durchaus aussagekräftig. Aber Du kannst gerne weitere Auswertungen und Differenzierungen für andere Themen einführen.

5) Die Untersuchung bezieht sich explizit auf die Einladepraxis der Sendung „Sabine Christiansen“. Wer hat die Chance zu Wort zu kommen, wie ausgewogen ist die Gästeliste und welche Informationen bekommen die Zuschauer über die Gäste? Dafür liefert die Studie valide Ergebnisse über einen längeren Zeitraum. Wir haben auch stichprobenartig Sendungen angesehen, um zu analysieren, wie die Gäste vorgestellt wurden und wie sie zu Wort kamen. Dabei lassen sich keine Anzeichen dafür finden, dass Christiansen sich in der Moderation um einen Ausgleich für die unausgewogene Gästeliste bemüht (um es mal vorsichtig auszudrücken). Insofern zieht dieser Einwand nicht.

Eine umfassende Diskursanalyse von „Sabine Christiansen“ ist sicher auch interessant und ich wäre an den Ergebnissen durchaus interessiert. Es wäre einfach eine andere Studie. Sie hätte sicher ihre eigene Berechtigung, würde aber an der Analyse der Einladepolitik bei Christiansen nichts ändern.

U. Müller17. April 2007 um 16:29

Zu Punkt eins noch einen Literaturhinweis von unserem Vorstandsmitglied Dieter Plehwe:

Dieter Plehwe, 2006, „Soziale Marktwirtschaft als Steinbruch? Zur Neuvermessung der Grenzen zwischen Markt und Staat in der aktuellen Debatte über wirtschaftspolitische Leitbilder.“ In: Ariane Berthoin Antal, Sigrid Quack (Hrsg.). Grenzüberschreitungen – Grenzziehungen. Implikationen für Innovation und Identität. Festschrift für Hedwig Rudolph. Berlin. Edition Sigma. S. 353-388.

Nostradamus20. August 2007 um 19:40

Seit dem Ende des kalten Kriegs ist das Yin Yang – der Kosmos der Kräfte – destabilisiert.
Westliche Wirtschaftsmächte haben nach der Destabilisierung östlicher Planwirtschaftssysteme riesige Konkursmassen und damit unglaubliche zusätzliche Macht übernommen und es damit überhaupt nicht mehr nötig, Menschen in den althergebrachten westlichen Systemen mit sozialen Segnungen von der Überlegenheit westlich wirtschaftlichen Handelns und dem Versagen totalitärer Planwirtschaftssysteme zu überzeugen.
Die bei Frau Christiansen auftretenden Wirtschaftsexperten sind nichts weiter als Boten der neuen Macht, die meist nicht das Dialektische und den Ausgleich pflegen, sondern die Bedigungen für die Übernahme unseres Sozialstaates übermitteln.
Lobbiistische Verzahnungen innerhalb aller gesellschaftlicher Kathegorien sind inzwischen soweit fortgeschritten, daß die wahren Hüter unserer freiheitlich demogratischen Verfassung die Apokalypse am Horizont bereits erahnen.
Wie weit es um unsere Demokratie steht, würde sich schnell zeigen, wie die Macht zum Beispiel auf einen Wahlsieg der Linkspartei reagieren würde. Hier ist meines Erachtens jedes Szenario bis hin zur Einsetzung des staatlichen Notstands denkbar.

Jones26. Januar 2008 um 8:35

Eine derart schlechte und unwissenschaftliche Studie habe ich selten gelesen. Nicht nur ist die „Methodik“ hanebüchen, auch zentrale Begriffe wie „neoliberal“ bleiben undefiniert und die Empirie schimpft jeder Beschreibung (Personen werden aufgrund ihres Berufes in konstruierte schwarz-weiss Schubladen gesteckt). Ich weiß nicht, an welcher Universität die Autoren ihr wissenschaftliches Handwerk erlernt haben sollen, aber das hier kann man nicht ernst nehmen. Autsch.

U. Müller29. Januar 2008 um 18:08

Wir benutzen in der Studie keine Schwarz-Weiß-Schubladen, sondern versuchen die Gäste verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zuzuordnen. Diese Zuordnungen sind natürlich etwas grob – trotzdem ist das Vorgehen aus unserer Sicht der Frage angemessen. Denn bei der Zusammenstellung von Talkshow-Runden wird genauso verfahren: die Gäste werden nicht nur als Einzelpersonen eingeladen, sondern sie sollen verschiedene gesellschaftliche und politische Strömungen und Gruppierungen abbilden.

Was ist also daran falsch, z.B. die Zahl der Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gegenüberzustellen? Natürlich gibt es innerhalb dieser Gruppen unterschiedliche Positionen; aber unsere Frage war, welche Gruppen haben in welchem Ausmaß die Gelegenheit, in der Sendung zu Wort zu kommen.

Wir glauben, dass die Studie klar die Unausgewogenheit der Gästeliste der Sendung zeigt. Sie zeigt auch, dass die Zuschauer der Sendung teilweise nicht über die Lobby-Verflechtungen einzelner Gäste informiert wurden. Damit wurde die Sendung aus unserer Sicht nicht dem Rundfunkstaatsvertrag gerecht.

Den Begriff „neoliberal“ bzw. „marktliberal“ verwenden wir vor allem bei der Auswertung der geladenen Experten der Sendungen, die sich mit Sozial- und Wirtschaftsreformen beschäftigt haben. Dabei stellen wir bei den Ökonomen die einzelnen Personen genauer vor – so dass die Zuordnung und inhaltliche Füllung des Begriffs deutlich wird. Aber es wäre vermutlich sinnvoll gewesen, zu den Begriffen noch mal einen erläuternden Absatz einzufügen, das stimmt
(siehe auch die Debatte mit Christian oben).

R.W.26. August 2008 um 9:34

Zum Beitrag „Christian schreibt: 16. April 2007 um 13:06“:

Ich habe „Meine Sonntage mit Sabine Christiansen“ von Walter van Rossum auch gelesen, und im Gegensatz zu diesem Donnerwetter ist diese Studie – das darf sie auch nicht sein – kein (unsachliches) „Herziehen“, sondern entspricht der subjektiven Wahrnehmung all derjenigen, mit denen ich über diese Sendung sprach, und auch meiner. Eine Studie ist niemals wertneutral, weil sie ja den Zweck hat, etwas zu untermauern und zu objektivieren.

Dass da verschiedene Initiativen versuchen, sich mit dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ zu tarnen, aber ganz andere Absichten haben, ist offensichtlich. Das ist durchaus eine Sinnverdrehung. Der Begriff „neoliberal“ bzw. „neoklassisch“ ist bei der ganzen Debatte um die derzeitige deutsche Wirtschaftspolitik richtig verwendet. Die deutsche politische Linke um Lafontaine hat diesen Begriff nicht erfunden, sie verwendet ihn aber nicht allein als Begriff einer Wirtschaftspolitik, sondern darüber hinaus als Begriff der historischen Kategorie „Ideologie“. Und auch dies ist nicht nur zulässig, sondern auch angebracht.

Wer sich mal mit Geschichte/Geschichtsphilosphie eingehender beschäftigt hat, weiss, dass diese Wirtschaftspolitik bzw. die Art und Weise, wie sie in die Gesellschaft hineingetragen wird, typische Kriterien einer Ideologie erfüllt. In der Philosphie spricht man eher vom politischen Apsekt her und zählt den (Neo-)Liberalismus wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus zu einer Form von „Anthropolitik“, das ist pontiert gesagt nicht Poilitik FÜR den Menschen, sondern Politik AM Menschen.

Ein Kennzeichen einer Ideologie ist, dass sie ein System an Symbolen und auch an Masnahmen entwickelt aufgrund eines Idealbildes vom Menschen, und dass sie versucht, die Menschen an dieses Idealbild anzupassen – notfalls mit wie auch immer gearteten Gewalt. Zwei dieser Versuche endeten in einer lauten (3. Reich) bzw. leisen (Ostblock) Katasprophe. Das Idealbild des Nationalsozialismus war der BIOLOGISCH perfekte Mensch, das Idealbild des Kommunismus der GESELLSCHAFTLICH perfekte Mensch, und das Idealbild des Neoliberalismus ist der ÖKONOMISCH perfekte Mensch. Ideologien nehmen für sich in Anspuch, dass sie alle Lebensbereiche der Menschen bzw. der Gesellschaft durchdringen und beherrschen und Menschen sich diesem Idealbild bedingungslos anpassen. Stichwort „Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche“. Weil sie das in der Regel nicht freiwillig tun, wird irgendeine Form der gewalt angewendet. Die Frage: „Und wann fliess Blut“ ist durchaus berechtigt. Die Idee des Keynesianismus ist der Versuch, die Wirtschaft mittels Politik an die Bedürfnisse der gesellschaft anzupassen. Das ist mal ein gewaltiger Unterschied! Dass der Keynesianismus angeblich nicht funktioniert, liegt daran, dass er nie richtig, sondern immer nur ansatzweise umgesetzt wurde. Marktwirtschaft funktioniert aber erst recht nicht, dass kann man gerade ganz deutlich am Beispiel der USA sehen.

Neu ist in unserem Zeitalter die Verbindung aus Politik und Medien. Die Medienlandschaft tendiert immer mehr dazu, eine Scheinrealität zur eigentlichen Realität darzubieten, in Form von „modernen Mythen“, als Projektionsfläche für die Politik. Die Politik bezieht sich in ihrem Handeln dann auf diese projezierte Realität, hinter der eine scheinbar Bestätigung liefernde, sicherlich aber schweigende Mehrheit verbirgt. Hierzu hat Baudrillard eine Theorie von den „Simulakren“ aufgestellt. Wir durchschauen dies nur nicht so recht, denn die ganze mediale/digitale Welt ist wunderbar zurechtdesignt, schön sauber und macht den Eindruck von klinischer Reinheit und chronischer Inhaltslosigkeit. Inmitten der Flut an vermittelten und nicht wirklich wahrgenommenen Symbolen der Banalität kann aber sehr pointiert und dosiert manipuliert werden – und das wird es auch. Man vergleiche: Bayern Alpha, „die Tagesschau von vor 25 Jahren“ und die Tagesschau heute. Schon allein der Unterschied in der Verwendung der Sprache ist beachtlich.

Der Neoliberalismus anerkennt keine Grenze zwischen Staat und Wirtschaft, er möchte den totalen und totalitären Zugriff auf die Gesellschaft. Wir haben, ähnlich wie im 13. Jahrundert zur Zeit des Investiturstreites, eine erbitterte Auseinandersetzung zweier Systeme über die oberste Herrschaft über die Mesnchen. Damals stritten Staat und Kirche, heute sind es Staat und Wirtschaft. Aber eigentlich wird da nicht gestritten, es herrscht angesichts der historischen Bedeutung dieser Auseinandersetzung VERDÄCHTIGE STILLE !!!
Im Bereich der Medien arbeitet der Neoliberalismusmit einer privatisierten und totalitären Teilgesellschaft zusammen. Das Privatfernsehen anerkennt die Grenze zwischen öffentlich und privat nicht an (auch ein Kennzeichen von Totalitarismus). Der Neoliberalismus will den Menschen in all seinen privaten Daten und Bereichen durchdringen. Er will die Unterwerfung, nicht die Überzeugung der Menschen. Um dies zu ermöglichen, verlangt er vom Staat nicht nur, dass er sich auf eine Grundfunktion als „Nachtwächterstaat“ zurückzieht und ansonsten alles nach dem Motto „Überleben des Stärkeren“ sich selbst überlässt. Nein, er macht sich sogar das Personal, die Organe und die Institutionen eines Staates dienstbar (z.B. WMP AG). Er erkennt das Privileg der Politik, eigenständig eine Wirtschaftspolitik zu entwickeln, nicht an, und dringt massiv in diesen Bereich ein. Diesen Vorwurf kann man dem Keynesianismus streng genommen auch machen, nur: er gibt es offen zu, weil die Idee vom Wohlfahrtsstaat ja auf die Kooperation des Staates angewiesen ist. Der Neoliberalismus will angeblich die Zurückhaltung des Staates, in Wirklichkeit aber dessen Kooperation. Keynesianer arbeiten jedoch mit sachlichen Argumenten und mit Überzeugungen, wo Neoliberale mit Schmähung, Angstgmache, Halbwahrheiten und Erpressung arbeiten. Philosophisch betrachtet – und das fängt an mit der Arbeit mit klaren und definierten Begriffen – reicht der Neoliberalismus sogar in mythische Gefilde hinein. Die Sprache der Religion und die Sprache des Alltags ist voll von sogenannten Kategorienverwechslungen. In der Wissenschaft ist es oberstes Gebot, Kategorienverwechslungen durch Kategorien- und Begriffsdisziplin zu ersetzen. Es werden von Vertretern des Neoliberalismus jedoch bestimmte Begriffe verwendet, von denen nicht klar ist, zu welcher Kategorie sie gehören: „unsichtbare Hand“, „magisches Dreieck“, „die Gesetze des Marktes“. Hier wird bewusst Nebel geworfen und mit Begriffen gearbeitet, die ins Mythische hineinreichen. Und das ist hochverdächtig!

Ernst Cassierer, der eine Theorie von der „Entstehung der symbolischen Formen“ in einem Staat aufstellte und von der Fachwelt verhöhnt und ausgelacht wurde (was man nach 1945 bitter bereute), stellte fest, dass einer einschneidenden gesellschaftlichen Veränderung ein Wechsel in der Funktion der (politischen) Sprache stattfindet: Die semantische Funktion (Information) einer Sprache tritt zurück hinter eine magische Funktion (Beeindruckung). Hans Saner hat darauf eine neue Art einer Herrschaft entwickelt, die sog. „Sombolokratie“ (im Gegensatz zur Personokratie und Strukturokratie). Eine politische Rede eines G. W. Bush ist hier sehr erkenntnisreich. Und unter diesem Aspekt sollte man den Neoliberalismus sehen. Ich vermute, der Neoliberalismus wird uns in eine globale Katastrophe stürzen, wenn er nicht gebändigt wird.

Wer sich eingehender / wissenschaftlicher mit dem Thema beschäftigen möchte:

Zum Widererstarken der liberalen Markttheorie und zum Abbau des Sozialstaates:
„Wollt Ihr den totalen Markt?“ – Herbert Schui/ Ralf Ptak/Stephanie Blankenburg
„Kein schöner Land“ – Heribert Prantl

Zum Thema Anthropolitik:
„Philosophie des 20. Jahrhunderts ODER Die Wiederkehr des Menschen“ – Andreas Steffens

Zum Thema (Anthro-)Politik und Dienstbarmachung der Medien:
„Macht und Ohnmacht der Symbole“, darin: „Die Symbolokratie als neue Herrschaftsform“ – Hans Saner
„Simulacra and Simulation“ – Jean Baudrillard

Auf eine bessere Zeit!

Richard Hochbaum1. April 2011 um 11:47

Es hat sich doch in den letzten 18 Monaten klar und deutlich herausgestellt, dass Westerwelle nicht das Format hat, ein Land wie die Bundesrepublik als Außenminister zu repräsentieren. Allerdings auch innenpolitisch hat er sich durch seine Hartz4-Aussagen disqualifiziert. Als Bürger dieses Landes neigt man bereits zum Fremdschämen für unseren Außenminister. Die Frage ist nur, wann erlöst uns Westerwelle und tritt zurück?