Seit wir Stadtführungen machen, müssen wir uns entscheiden, welche Orte wir besuchen und welche Geschichten wir erzählen oder weglassen. Oft sind es brisante, aber ältere Geschichten, die den aktuellen weichen müssen. Zum Jubiläum drehen wir den Spieß jedoch um: Jetzt zählt, was geblieben ist. Die Geschichten, die uns geprägt haben. Die Lobby-Erfolge, -Skandale und -Strategien, die zeigen, wie Einflussnahme funktioniert. Damals wie heute. Unsere Lobby-Scouts haben ihre liebsten Stationen aus dem Archiv geholt. Mit dabei:
Autolobby siegt auf Kosten des Klimas
Besonders präsent sind im Regierungsviertel die deutschen Autokonzerne. Einer ihrer besonders absurden Lobby-Erfolge: das CO₂-Effizienzlabel für Pkw. Gewinner dabei: große und besonders schwere Pkw. Verlierer: Verbraucher*innen und das Klima.
Chemieindustrie verwässert Umweltstandards
Eine der größten Lobby-Schlachten der letzten Jahrzehnte war die um die REACH-Verordnung. Diese sollte Europas Antwort auf giftige Chemikalien sein. Doch unter massivem Lobbydruck der Industrie wurden die einst ambitionierten Pläne verwässert. Heute flammt diese Auseinandersetzung wieder auf. Der Ausgang ist noch ungewiss.
RWE beeinflusst Kinder mit Unterrichtsmaterial
Eines der größten Bürogebäude im Regierungsviertel ist weithin sichtbar: das Internationale Handelszentrum an der Friedrichstraße. Hier haben unter anderem die rund 40 Lobbyist*innen des Energiekonzerns RWE ihre Büros und mischen auch in der öffentlichen Meinungsbildung mit. Selbst in Schulen – mit Material, das den Braunkohleabbau verharmlost, etwa durch die Geschichte der 14-jährigen Julia, die kein Problem mit der Zerstörung ihres Heimatdorfs hat.
Lobby-Schreibtisch im Ministerium
Es gibt auch Lobby-Praktiken, die früher weit verbreitet waren und zum Glück heute der Vergangenheit angehören. Ein Beispiel: Lobbyist*innen der Deutschen Börse mit Arbeitsplatz Unter den Linden, im selben Gebäude wie das Hauptstadtstudio des ZDF. Eine Zeit lang hatten einige von ihnen einen zweiten Schreibtisch – nicht im Home-Office (das gab es damals noch nicht), sondern direkt im Finanzministerium. Dort durften sie sogar an Gesetzen mitarbeiten – auch an solchen, die ihr eigenes Unternehmen betrafen.
Von der Regierung in die Wirtschaft
Seitenwechsel von der Politik in die Wirtschaft sind ein Klassiker. Das stellt ein Problem dar. Auf unseren Stadtführungen begegnen wir immer wieder ehemaligen Minister*innen, die heute Lobbyarbeit machen. Ein besonders dreister Fall: Dirk Niebel, früher Entwicklungsminister, dann Berater bei Rheinmetall. Der öffentliche Aufschrei damals hat immerhin dazu geführt, dass solche Wechsel heute schwieriger geworden sind.
Das sind nur einige der Geschichten, die wir in den vergangenen Jahren im Regierungsviertel erzählt haben. Gemeinsam zeichnen sie ein Bild der jüngeren Geschichte des Lobbyismus in Deutschland.
Einige Missstände konnten wir zurückdrängen – und das feiern wir. Doch die strukturelle Unausgewogenheit besteht weiterhin, und manches ist sogar schlimmer geworden.