Handelspolitik

ISDS-Reformagenda: „In der Substanz ändert sich dadurch gar nichts.“

Seit Beginn der TTIP-Verhandlungen stehen die umstrittenen Schiedsgerichte in der Kritik. Unsere Analyse der neuen EU-Verhandlungsposition und eine Auswertung der Vorschläge von Lobbyisten dazu zeigen: Nach der Reform ist vor der Reform. ISDS gefährdet weiter demokratische Handlungsspielräume.
von 10. Dezember 2015

Seit Beginn der TTIP-Verhandlungen stehen die umstrittenen Schiedsgerichte in der Kritik. Die EU-Kommission hat im Oktober mit einer sogenannten Reform des Schiedsgerichtswesens auf die öffentliche Kritik reagiert. Doch diese Reform ist kaum mehr als Augenwischerei. Sie beseitigt weder eine überflüssige, demokratiegefährdende Paralleljustiz für Unternehmen noch den Großteil der potentiellen Interessenkonflikte, die im Rahmen des ISDS-Systems (ISDS=Investor-State-Dispute-Settlement) möglich sind. Eine kritische Analyse der neuen EU-Verhandlungsposition und eine Auswertung der Vorschläge von Lobbyisten dazu zeigen: ISDS gefährdet weiter demokratische Handlungsspielräume.

Die Reformagenda: Eine Reaktion auf Kritik von Bürgerinnen und Bürgern

Das Bild zeigt eine Podiumsdiskussion zur ISDS-Reformagenda zwischen Kommissionsvertreter Schlegelmilch und dem zivilgesellschaftlichen Schiedsgerichtsexperten Gus Van Harten.

Das Bild zeigt eine Podiumsdiskussion zur ISDS-Reformagenda zwischen Kommissionsvertreter Schlegelmilch und dem zivilgesellschaftlichen Schiedsgerichtsexperten Gus Van Harten.

Mit ihrem Reformvorschlag reagiert die EU-Kommission auf die umfassende Kritik aus der Zivilgesellschaft in Europa und den USA. Was hat sich die EU-Kommission nun ausgedacht, um Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass eine Paralleljustiz für Konzerne doch sinnvoll sein könnte? In ihrer PR-Arbeit für den Investorenschutz im TTIP betont die Kommission vor allem zwei Komponenten: Die Reduzierung von Interessenkonflikten und den Schutz des staatlichen Rechts zu regulieren.

Kann das ’neue‘ ISDS das Recht zu regulieren („right to regulate“) untergraben?

Laut EU-Kommission garantiert ihr Vorschlag für den Investitionsschutz im TTIP “das Recht zur regulieren”, also das Recht der EU und ihrer Mitgliedstaaten, neue Regeln im öffentlichen Interesse einzuführen beziehungsweise beizubehalten. Das suggeriert, dass Verbraucherschutzgesetze nicht durch TTIP-Schiedsgerichtsverfahren infrage gestellt werden können.

In der Tat ist es richtig, dass die EU nun eine explizite “right to regulate” Formulierung für das zukünftige TTIP-Investitionschutz-Kapitel vorschlägt. Das ist begrüßenswert. Aber: Geschützt sind nur Entscheidungen, die “notwendig” sind, um ein bestimmtes Ziel, z.B. den Verbraucherschutz, zu erreichen. Darüber entscheiden, was notwendig ist und was nicht, werden letztendlich die Schiedsgerichte. Das ist unzureichend und sichert nicht die Regulierungshoheit von Staaten ab. Die EU-Kommission muss hier nachbessern, wenn sie diese tatsächlich besser absichern will.

Dazu passt, dass Nigel Blackaby, Co-Chef für internationale Schiedsgerichtsbarkeit bei der Anwaltskanzlei Freshfields in Washington, davon ausgeht, dass die EU-Vorschläge nichts Grundlegendes an der Schiedsgerichtsbarkeit verändert, „denn die Standards, nach denen geurteilt wird, bleiben die gleichen.“ Mit anderen Worten: Klagen wie die des Energiekonzerns Vattenfall gegen den deutschen Atomausstieg oder die des Tabakmultis Philip Morris gegen Anti-Tabak-Gesetze in Australien wären weiterhin möglich. Und auch, dass zukünftige Schiedsgerichte sie zugunsten der Investoren entscheiden. Es gehe beim jüngsten Vorschlag der Kommission daher lediglich darum, ISDS politisch zu retten, so Blackaby in der Österreichischen Tageszeitung Der Standard.

Berechtigte Zweifel an Unabhängigkeit der Richter

Daneben sieht der EU-Vorschlag für „Investitionsschutz und ein Investitionsgericht“ (englisch: Investment Court System, kurz ICS) vor, dass die Verfahren künftig von angeblich unabhängigen Richtern entschieden werden. Diese dürfen während ihrer Tätigkeit als ICS-Richter nicht parallel als Anwälte in anderen Klagen arbeiten.

Allerdings gibt es berechtigte Zweifel daran, dass die Unabhängigkeit der Richter im Rahmen dieses Modells tatsächlich gewahrt werden kann. Dabei steckt der Teufel im Detail. Die sogenannten Richter müssen „richterähnliche“ Qualifikationen aufweisen. Das bedeutet , dass dieselben Personen künftig „Richter“ sein können, die derzeit die internationale Schiedsgerichtsszene prägen. Es kommt hinzu, dass auch die künftigen Richter kein festes Gehalt bekommen, sondern pro Klage bezahlt werden – mit dem Standardsatz von 3,000 US$ am Tag. Das wiederum hat zur Konsequenz, dass die Richter ein ökonomisches Interesse an einer Zunahme von Klagen haben. Denn in einem einseiten Klagesystem, in dem nur Investoren klagen können, bedeuten mehr Investoren-Klagen mehr Berufungen, Einnahmen und Prestige für die “Richter”. Das wiederum ist ein hoher systemischer Anreiz, Klagen investorenfreundlich zu enscheiden – denn das motiviert mehr Klagen in der Zukunft.

Nach der Reform ist vor der Reform

Neben der Reform von Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen von TTIP will sich die EU-Kommission auch für einen internationalen Schiedsgerichtshof einsetzen. Die Diskussion über einen internationalen Gerichtshof für Konzernklagen gibt es schon seit einem guten Jahrzehnt. Getan hat sich seitdem noch nicht besonders viel. Es ist zudem etwas verwunderlich, dass die Kommission zunächst Schiedsgerichtsbarkeit zwischen zwei großen Handelsräumen wie den USA und der EU etablieren will, um dann diesen Vorschlag durch ein neues System zu ersetzen. Sie könnte auch gleich auf ISDS im TTIP-Abkommen verzichten und sich für einen umfassenderen Schiedsgerichtshof einsetzen. Warum der doppelte Aufwand?

Es stellt sich weiterhin die ohnehin viel wichtigere, grundsätzliche Frage, warum man überhaupt eine Paralleljustiz für Konzerne braucht? Wir haben funktionierende Rechtssysteme auf beiden Seiten des Atlantiks und brauchen kein einseitiges Klagerecht für Konzerne gegen Staaten.

Widersprüchliche Argumente der Kommission zu EU-Rechtssystem

In einer öffentlichen Veranstaltung in Brüssel Anfang November begründete der Vertreter der EU-Kommission Schlegelmilch die ISDS-Verhandlungen damit, dass es in den USA berechtigte Sorgen gäbe, dass einige EU-Mitgliedstaaten keinen ausreichenden Rechtsschutz für Unternehmen böten, ihre Rechtssysteme also unzureichend wären.
Nun gibt es für die Aufnahme in die EU Aufnahmekriterien, darunter ein funktionierendes Rechtssystem. Wenn dem nun nicht in allen Mitgliedstaaten so ist, dann kann doch nicht der erste Schritt sein, stattdessen Schiedsgerichtsbarkeit einzuführen. Vielmehr ist es dringend geboten, an der Verbesserung der existierenden Rechtssysteme aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu arbeiten. Andernfalls könnte ISDS sogar zur Folge haben, dass fehlende Rechtstaatlichkeit dauerhaft zementiert wird.

Eine gute Zusammenfassung der Kritik an der Reformagenda bietet dieser Kurzfilm von Campact:

Wie reagiert die Schiedsgerichtsindustrie?

Die EU-Kommission rühmt sich mit der Tatsache, dass es nun auch Kritik von Unternehmenslobbyseite an der ISDS-Reformagenda hagelt. Sie interpretiert das als Zeichen dafür, dass ihre Agenda umfassend ist und die Kritik der Zivilgesellschaft aufgreift. In der Tat sind die Reaktionen von internationalen Anwaltskanzleien, die in der Schiedsgerichtsbarkeit tätig sind, äußerst kritisch.
Das gilt auch für die Brüsseler Kanzleienlobbygruppe EFILA. Bereits vor einiger Zeit hatten wir darüber berichtet, dass im Juli 2014 mehrere Kanzleien in Brüssel die European Federation for Investment Law and Arbitration (EFILA) gegründet hatten. EFILA ist ein Thinktank, der angeblich eine Plattform für eine „objektive Debatte“ zum Thema internationaler Investitionsschutz bieten soll. Wie objektiv EFILA ist, zeigt sich jedoch bereits an den Mitgliedern. Dabei handelt es sich ausschließlich um Anwaltskanzleien, die im Bereich Investitionsschutz tätig sind.

EFILA zufolge ist der Investorenschutz schon im nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA und im CETA-Abkommen mit Kanada viel zu stark eingeschränkt, da der Fokus angeblich zunehmend darauf liege, den regulatorischen Handlungsspielraum von Staaten zu vergrößern. Der Think Tank ist der Ansicht, die EU schade sich mit der ISDS-Reform selber, da sie dadurch für ausländische Investoren an Attraktivität verliere. Insgesamt sieht EFILA keinerlei Reformbedarf bei der Schiedsgerichtsbarkeit, das gilt selbst beim Thema Transparenz. Die darin zusammengeschlossenen Kanzleien sprechen sich dafür aus, offenere Formulierungen beizubehalten, um eine dynamische Entwicklung des Systems zu erlauben.

BDI begrüßt Reformagenda

Deutlich werden die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb des Unternehmerlagers an der Haltung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Während internationale Anwaltskanzleien die Reformagenda scharf kritisieren und infragestellen, steht der BDI der neuen Agenda der EU-Kommission grundsätzlich positiv gegenüber. Das gilt sowohl für die Reformvorhaben innerhalb von TTIP als auch für das „Fernziel eines multilateralen Schiedsgerichtshofs.“ Explizit kritisch äußert sich der Verband gegenüber Vorschlägen, welche die Investoren-Seite in den Verfahren schwächen könnte, darunter zum Beispiel die restriktive Auslegung indirekter Enteignung.

Es mag taktische Gründe haben, dass der deutsche Industrieverband die Reformagenda begrüßt. Befürchtungen, dass etwa ISDS vollständig aus dem TTIP-Abkommen verschwindet, sind schließlich nicht ganz unbegründet in Anbetracht der fortdauernden umfassenden Kritik durch Bürgerinnen und Bürger. Gerade in Deutschland ist eine völlig unkritische Haltung gegenüber Schiedsgerichten in der öffentlichen Debatte wohl kaum zu halten. Gleichwohl erkennt der BDI damit zweifelsohne Kritikpunkte am klassischen ISDS-Verfahren an. So begrüßt er beispielsweise die Einführung einer Berufungsinstanz. Anders als EFILA bewegt sich also der Industrieverband.

BusinessEurope nimmt Mittlerposition ein

Anders als der BDI positioniert sich der größte europäische Arbeitgeberverband BusinessEurope. In Reaktion auf die Reformagenda machte der Verband unmissterverständlich seine Unzufriedenheit mit dem Vorschlag der EU-Kommission deutlich. Einer Reform von ISDS wäre man zwar grundsätzlich gegenüber aufgeschlossen. Allerdings schütze der derzeitige Vorschlag europäische Investoren im Ausland nicht ausreichend. Insbesondere könnte die Berufungsinstanz kleine und mittlere Unternehmen (KMU) davon abhalten, überhaupt zu klagen, so Luisa Santos von BusinessEurope. BusinessEurope lehnt eine ISDS-Reform also weder grundlegend ab noch begrüßt der Verband den Vorschlag der EU-Kommission.

Eine gelungene Rollenverteilung

Schaut man sich die vorgestellten Lobbyakteure an, stellt man fest, dass sie unterschiedlich reagieren. Das könnte mit der jeweiligen Umgebung zu tun haben oder aber auch mit unterschiedlichen Interessenlagen. Der BDI reagiert auf die kritische deutsche Debatte mit einer eher zurückhaltenden Position und äußert sich positiv zu den Reformvorschlägen, möglicherweise um ISDS insgesamt im TTIP-Abkommen nicht zu gefährden. Die Brüsseler Akteure hingegen verhalten sich anders: BusinessEurope schlägt schon eine härtere Tonart an und stellt wichtige Bestandteile des Reformvorschlags infrage. EFILA als Lobbyakteur der Schiedsgerichtsindustrie geht sogar weiter und lehnt den Reformvorschlag der EU-Kommission vollständig ab.

EU-Kommission als lachender Dritter

Das Bild zeigt EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström.

Das Bild zeigt EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström.

Für die EU-Kommission ist die politische Situation damit günstig. Interessenvertreter aller Richtungen kritisieren derzeit die Reformagenda. Und die Kommission kann sich deshalb auf die Fahnen schreiben, dass sie auf die öffentliche reagiert und einen angeblich ausgewogenen Vorschlag präsentiert.

Gleichzeitig muss klar sein, dass dies für die Kommission und die Unternehmenlobby strategisch sehr hilfreich ist. Eine fragwürdige Paralleljustiz für Konzerne findet wieder mehr Anklang in der öffentlichen Debatte, nur weil ein paar kosmetische Verbesserungen vorgenommen wurden. Denn diese dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kommission ihre politische Haltung zu ISDS in der Substanz nicht verändert hat. Sie passt sich lediglich den Umständen der kritischen Debatte an.

Insgesamt bleibt es dabei: Die Reformagenda zu Schiedsgerichten ist unzureichend und lässt weiterhin viele Fragen unbeantwortet. Allen voran bleibt auch mit dem sogenannten ICS-System eine Paralleljustiz für Konzerne, die Gefahr läuft, unsere demokratischen Handlungsspielräume einzuschränken. Deshalb müssen wir dranbleiben und dafür sorgen, dass ein TTIP-Abkommen mit solchen Vorschlägen nicht durchkommt.

Weitere Informationen:

Bildquelle Foto Cecilia Malmström: Johannes Jansson; Foto: Baltic Development Forum; Lizenz: CC BY 2.0.

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